An Männern erforscht, Frauen verabreicht. Was wir alle über Gendermedizin wissen sollten.

Unglaublich, und doch wahr: Frauen werden in der medizinischen Forschung bis heute auf erschreckende Weise vernachlässigt. Die Gendermedizin will hier Aufholarbeit leisten. Warum bisher hauptsächlich an Männern geforscht wurde, welche Auswirkungen das auf die Gesundheit von Frauen hat, warum Frauen Schmerzen besser aushalten (müssen) und in welchen Fällen Männer benachteiligt werden, erfahren Sie hier.

Was genau ist Gendermedizin?

In den 90er-Jahren fand man erstmals heraus, dass Frauen bei einem Herzinfarkt ganz andere Symptome zeigen als Männer.  Doch erst seit den frühen 2000ern werden geschlechtsspezifische Unterschiede systematisch erforscht. Und erst 2023 wurde der erste weibliche Crashtest-Dummy eingesetzt. Ja, genau: Zweitausenddreiundzwanzig.

Viel zu lange schon fehlt in der Wissenschaft und der Medizin der Blick auf die genderspezifischen Unterschiede gibt, die teilweise gravierend ausfallen.

Gendermedizin oder geschlechtsspezifische Medizin hat sich daher das Ziel gesetzt, Prävention,  Diagnosen und medizinische Behandlung für alle Geschlechter zu verbessern. Denn auch für Männer können medizinische und gesellschaftliche Vorurteile ein Gesundheitsrisiko darstellen. Bedacht werden in dieser jungen Disziplin neben biologischen auch sozio-psychologische Faktoren.

Doch wie konnte es eigentlich so weit kommen?

Was ist der Gender Data Gap?

Mehr als nur eine Datenlücke. Wie auch in anderen Bereichen des Lebens, wurde der Mann lange als der Standard angesehen. Dieser Gender Bias, also die verzerrte Wahrnehmung durch geschlechtsspezifische Vorurteile, lässt sich bis zu Hippokrates zurückverfolgen und ist somit so alt wie die Medizingeschichte selbst. Die Ausrede „Haben wir immer schon so gemacht!“, trifft hier also wirklich vollkommen zu. Doch wie wurde das männliche Geschlecht zur medizinischen Norm und bleibt sie bis heute? Wieso werden immer noch viel zu wenig Daten zu Frauen in der Medizin erhoben?

Ein historischer Punkt liegt auf der Hand: Wissenschaft und Lehre waren die meiste Zeit über männlich dominiert. Männliche Professoren untersuchten die Forschungsfragen, die sie interessiert haben und als Probanden standen die großteils männlichen Studenten willig und billig zur Verfügung.

Das Fehlen von geschlechtsspezifischen Daten geht auch auf Medikamentenskandale wie den Contergan-Skandal aus den 60er-Jahren zurück. Während in Österreich Contergan unter dem Namen Softeron verkauft wurde und rezeptpflichtig war, kamen in Deutschland weit mehr Babys mit Fehlbildungen zur Welt, nachdem Schwangere das Medikament als Beruhigungsmittel eingenommen hatten Der Contergan-Skandal trug dazu bei, dass Frauen kategorisch von allen klinischen Medikamentenstudien ausgeschlossen wurden. Das bliebt viele Jahre so - in den USA sogar bis 1993.

Aber auch danach blieben weibliche Probandinnen in der medizinischen Forschung die Ausnahme. Der komplizierte und stark schwankende Hormonzyklus der Frau kann Forschungsergebnisse beeinträchtigen und ist nicht ganz so einfach statistisch kontrollierbar. Dasselbe gilt sogar für Tierversuche. Es wird viel häufiger im Labor an männlichen Mäusen geforscht als an Weibchen. Selbst Zellstudien wurden bisher überwiegend an männlichem Gewebe durchgeführt.

Zudem könnten Frauen aufgrund von Schwangerschaften zu einer höheren Ausfallsquote in laufenden Studien führen. Besserung ist jedoch in Sicht: Eine 2022 in Kraft getretene EU-Verordnung sieht zumindest vor, dass Studienteilnehmer:innen diejenige Bevölkerungsgruppe repräsentieren müssen, die das Medikament voraussichtlich einnehmen wird.

In der universitären Ausbildung spielt Gendermedizin leider noch eine sehr untergeordnete Rolle. Und auch in der Forschung wird das Thema noch eher stiefkindlich behandelt, wie das Beispiel COVID-19 eindrucksvoll zeigt. Nur 4% aller Studien im Rahmen der Pandemie haben die Variable „Geschlecht“ in der statistischen Analyse mitberücksichtigt. Die Auswertungen zeigen jedoch deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern. So landen etwa doppelt so viele Männer wie Frauen aufgrund von SARS-CoV-2 auf der Intensivstation, um nur eines von vielen Ergebnissen zu nennen.

Welche Geschlechtsunterschiede gibt es bei Symptomen?

Einige Erkrankungen können sich bei Männern und Frauen ganz unterschiedlich äußern. Da die eher weiblich konnotierten Symptome nicht als die „typischen“ Krankheitssymptome bekannt sind, werden Frauen oft falsch oder erst viel später richtig diagnostiziert. Das kann gravierende Folgen haben.

Hier einige Beispiele:

Das Paradebeispiel Herzinfarkt:

Druck in der Brust und ein Schmerz, der in den linken Arm ausstrahlt ‒ bei diesen Symptomen braucht es weder McDreamy noch Dr. House, um eine sichere Diagnose stellen zu können. Frauen leiden jedoch meist an diffuseren Symptomen, wie Oberbauch- oder Rückenschmerzen, Übelkeit und Erbrechen mit ausgeprägtem Schwächegefühl. Die Folgen: Frauen mit Herzinfarkt kommen durchschnittlich 2 Stunden später in die Notaufnahme als Männer.  Obwohl Männer dreimal so oft einen Herzinfarkt erleiden, ist die Sterblichkeitsrate bei Frauen doppelt so hoch.

Schlaganfälle:

Auch hier sind die Symptome, die Frauen betreffen, weit nicht so bekannt. Diese sind zum Beispiel: Schluckbeschwerden, Schluckauf, Kurzatmigkeit, Schwächeanfälle, Brust- und Kopfschmerzen sowie Übelkeit. Die meisten dieser Symptome lassen sich auf Alltägliches zurückführen, wie beispielsweise übermäßigen Stress. Wird der Schlaganfall nicht rechtzeitig erkannt, geht jedoch wertvolle Zeit verloren, bis die Behandlung erfolgen kann.

ADHS:

ADHS zeigt sich bei Buben typischerweise mit Hyperaktivität und störendem Verhalten. Bei Mädchen jedoch eher mit innerer Unruhe, Vergesslichkeit oder starken emotionalen Schwankungen. Das führt dazu, dass Buben 4-mal so häufig mit ADHS diagnostiziert werden, wie Mädchen, obwohl die Erkrankung bei beiden Geschlechtern gleichhäufig vorkommt.

Depressionen:

Depression gilt bei Männern als unterdiagnostiziert, da die vermeintlich typischen Symptome eher bei Frauen zu beobachten sind. Wut und Arbeitssucht statt Trauer und Lethargie ‒ Männer mit Depressionen zeigen oftmals vermehrte Aggressivität und flüchten sich in einen gesteigerten Alkoholkonsum oder eine Spielsucht.

Warum Medikamente bei Frauen und Männern unterschiedlich wirken.

Geringeres Gewicht, kleinere Körpergröße, ein robusteres Immunsystem, das zusätzlich noch ein Kind schützen kann, hormonelle Schwankungen, ein höherer Fettgewebeanteil, eine schwächere Magensäure,… es gibt einige Gründe warum viele Medikamente bei Frauen anders wirken als bei Männern. Das Problem: Solche geschlechtsspezifischen Unterschiede wurden in der Medikamentenforschung meist nicht untersucht.

Zwischen Männern und Frauen bestehen auch nachweislich Unterschiede, wie sie auf dieselbe Dosis eines Medikaments reagieren können. Manche Medikamente werden beispielsweise bei Frauen langsamer abgebaut. Eine Studie zu einem Beruhigungs- und Schlafmittel in den USA hat beispielsweise dazu geführt, dass Frauen nur noch die halbe Dosis verschrieben bekommen. So erklärt sich auch, dass Medikamenten-Nebenwirkungen bei Frauen 1,5-mal häufiger als bei Männern auftreten.

Und in manchen Fällen kann auch ganz auf ein Medikament verzichtet werden. Aspirin wurde beispielsweise vorbeugend gegen Herzinfarkte verabreicht. Dass es in diesem Zusammenhang jedoch nur bei Männern wirksam ist, hat man erst im Jahr 2005 festgestellt.

Ein doppeltes X-Chromosom kann aber auch dafür verantwortlich sein, dass Frauen mehr Enzyme haben, die den bestimmten Wirkstoff abbauen. Somit brauchen Frauen für die gleiche Wirkung eine höhere Dosis. Das ist beispielsweise bei manchen Schmerzmitteln der Fall.

Frauenkrankheiten und wieso sie vor allem für Männer gefährlich sind.

In der medizinischen Forschung mangelte es bisher nicht nur an Probandinnen, sondern auch an Fragestellungen zu Erkrankungen, die nur Frauen betreffen.

Das hat leider nicht nur zur Folge, dass heutzutage 5-mal mehr Studien zu Erektionsstörungen als zum Thema PMS existieren. Frauenspezifische Erkrankungen, wie Endometriose sind schlecht erforscht und sogar weitgehend unbekannt. Sie werden somit seltener korrekt oder erst sehr spät diagnostiziert. Für die betroffenen Frauen bedeutet das oft einen jahrelangen Leidensweg.

Aber es gibt auch Krankheiten, die hauptsächlich – aber eben nicht nur – Frauen treffen. Erkranken Männer an Krankheiten, die meist eher Frauen betreffen, kann dies gravierende Folgen haben, weil die Symptome oft nicht frühzeitig erkannt werden

So sind beispielsweise nur 1% aller Brustkrebspatient:innen Männer. Ihre Heilungschancen sind aber im Vergleich zu Frauen viel geringer. Denn bei Männern denkt man gar nicht erst an Brustkrebs,  weder bei der Prävention noch bei der Diagnosestellung. Krebs wird dadurch seltener oder später entdeckt. Auch nehmen grundsätzlich nur wenige Männer an Brustkrebsstudien teil.

Frauen erkranken nach der Menopause häufig an Osteoporose, weshalb diese Krankheit eher als weiblich angesehen wird. Doch auch Männer sind gar nicht so selten davon betroffen, nur etwa 5-10% der Osteoporosepatient:innen sind männlich. Das führt auch bei dieser Krankheit oftmals zu späten Diagnosen und in diesem Zusammenhang zu einer höheren Mortalitätsrate.

Schmerzt besonders: Der Gender Pain Gap.

Der Gender Pain Gap beschreibt den Umstand, dass Frauen mit ihren Schmerzen bei medizinischen Untersuchungen nicht genauso ernst genommen werden wie Männer. Die meisten Frauen haben solch eine Situation selbst schon mehrfach erlebt. Ihre Schmerzen werden ignoriert oder abgetan.

Aber keine Sorge, man muss nicht einfach den Frauen glauben. Auch die Zahlen schreiben ein eindeutiges Bild:

Frauen mit Schmerzen haben im Vergleich zu Männern eine höhere Wahrscheinlichkeit mit Beruhigungsmitteln nach Hause geschickt zu werden als mit Schmerzmitteln. Eine Studie zeigte sogar, dass es für Frauen nach einer Bypass-OP am Herzen nur halb so wahrscheinlich war, Schmerzmittel verschrieben zu bekommen, wie für Männer nach derselben OP. In Notaufnahmen in den USA warten Frauen im Durchschnitt 65 Minuten bis sie bei akuten Bauchschmerzen Schmerzmittel verabreicht bekommen. Männer warten hingegen nur 49 Minuten.

Personen, die unter chronischen Schmerzen leiden sind zu 70% Frauen. Und trotzdem werden ca. 80% aller Studien zum Thema Schmerz an Männern oder männlichen Mäusen durchgeführt. Autsch.

Der Gender Pain Gap steht auch oft im Zusammenhang mit frauenspezifischen Krankheiten wie  beispielsweise Endometriose. Die Patientinnen kommen mit starken Bauchschmerzen zum/zur Ärzt:in und werden mit Beruhigungsmitteln wieder nach Hause geschickt. Wenn die Frauen aufgrund ihrer Schmerzen zudem nicht mehr ruhig und besonnen im Untersuchungsraum sitzen, sondern aufgebracht und verzweifelt sind, kann es außerdem leichter passieren, dass nicht ganz eindeutige Symptome schnell auf psychische Auslöser geschoben werden.

Unser Fazit:

Die junge Disziplin der genderspezifischen Medizin hat ganz schön viel zu tun, bis sie hoffentlich einmal nicht mehr als eigenes Fach gebraucht wird. Aufklärung und Awareness ‒ in der Bevölkerung und bei medizinischem Fachpersonal ‒ sind hier dringend nötig, um dieses vernachlässigte Thema schneller voranzubringen.

Dabei wäre Gendermedizin so wichtig für alle Geschlechter. Aber die aktuelle Forschung muss hier noch viel weiter gehen. Denn selbst wenn  geschlechtsspezifische Unterschiede berücksichtigt werden, sind weiße, cis Personen immer noch die medizinische Norm. Wir profitieren alle, wenn Geschlechtlichkeit in allen Facetten, Alter, Ethnien und kulturelle Gegebenheiten keine medizinischen Randthemen bleiben.

Als Patient:in selbst hilft es natürlich über diese Umstände Bescheid zu wissen und sich, wenn möglich, eine Zweitmeinung einzuholen. Das geht im Rahmen einer privaten Krankenversicherung meist schnell und einfach. Und ja, auch Männer sind hiervon nicht ausgenommen.  

Wo kann ich mich weiter zum Thema Gendermedizin informieren?

Für alle, die sich noch weiter in dieses spannende Thema vertiefen wollen, haben wir hier eine kleine Auswahl an Buch- und Podcast-Tipps zusammengestellt:

  • Vera Regitz-Zagrosek, Stefanie Schmid-Altringer: Gendermedizin: Warum Frauen eine andere Medizin brauchen.
  • Caroline Criado-Perez: Unsichtbare Frauen: Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert.
  • Alexandra Kautzky-Willer, Elisabeth Tschachler: Gesundheit: Eine Frage des Geschlechts.
  • Podcast: The Sex Gap. Der Podcast zu geschlechtergerechter Medizin, Apothekenumschau.
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